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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.2002, Nr. 279 / Seite 33

Eine Erklaerung von hoechster Stelle zur Menschlichkeit des Islam

Nach den Attentaten: Eine Erklaerung zur Menschlichkeit des Islam / Von Sajjid Mohammed Tantawi, Scheich von al Azhar


Der Islam ist nicht als Kirche organisiert, er kennt kein offizielles Lehramt in Angelegenheiten der Dogmatik wie des Rechts. Der sunnitische Islam, dem etwa neunzig Prozent der 1,2 Milliarden Muslime angehoeren, wird durch vier orthodoxe, regional unterschiedlich verbreitete Rechtsschulen (madhahib) repraesentiert, die in Einzelheiten der Scharia, des islamischen Sakralrechts, und der Dogmatik voneinander abweichen. Die Schiiten verfuegen mit der Dschaafari-Schule ueber eine eigene Auspraegung des religioesen Rechts. Im sunnitischen Islam kommt gleichwohl dem Grossscheich von al Azhar zu Kairo eine besondere Autoritaet zu. Seine "Fatwas" (religioesen Rechtsgutachten) sind nicht automatisch verbindlich fuer alle Muslime, geben aber doch eine autoritative Richtung vor, die von vielen Muslimen wegen der Altehrwuerdigkeit der al Azhar und des Ansehens ihrer Gelehrten respektiert wird. Die Moschee und Universitaet al Azhar ist aelter als tausend Jahre. Sie enstand, nachdem die Fatimiden im Jahr 969 Kairo und Aegypten erobert und ihrem Reich einverleibt hatten. An den Rechtsentscheidungen der Scheichs im zwanzigsten Jahrhundert laesst sich sehr schoen ablesen, ob Reformen oder konservative Stroemungen populaer waren. Auch die mehr oder weniger grosse Naehe zur staatlichen Gewalt spiegelt sich in manchen Fatwas wider.

Der gegenwaertige Scheich von al Azhar, Sajjid Mohammed Tantawi, gilt als "Liberaler" innerhalb der Kaste der Rechtsgelehrten des Islams, der ulema; er versucht, die auseinanderdriftenden Rechtsauffassungen unter den Muslimen zusammenzuhalten und besonders islamistische und terroristische Gruppen zu zuegeln. Ein weiteres Anliegen ist ihm die Verstaendigung mit der nicht-muslimischen Welt, an der er gelegentlich durch Reisen nach Europa teilnimmt. In Fragen der islamischen Ethik (achlaq) vertritt Scheich Tantawi im allgemeinen moderate Auffassungen, er will, dass die Menschen aus Einsicht, nicht aus Zwang handeln. In der Palaestina-Frage hat er freilich entschieden das Widerstandsrecht gegen die israelische Besatzung und Landnahme hervorgehoben, das den Kern des islamischen Kriegsrechtes ausmache. Seine Gegner sind die "Dschihadisten" und andere Militante, die das Selbstmord-Martyrium des Terrorismus predigen und ebenso rechtfertigen wie den Angriffskrieg zur Verbreitung der Herrschaft des Islams.

Scheich Tantawis Urteil ueber Mord und Selbstmord ist eine gewichtige, wenn auch nicht autoritativ verpflichtende Stimme. Herausgefordert hat dieses mit einem persoenlichen Brief Juergen Todenhoefer, der ehemalige CDU-Politiker und stellvertretende Vorstandsvorsitzende von Burda. Er wandte sich an Scheich Tantawi mit der Bitte, das Zerrbild des Islam aufzuhellen, der in Europa und den Vereinigten Staaten nurmehr als "grausamer, alles Zivilisatorische verzehrender Feuerball" wahrgenommen werde. "Sie sollten", schrieb Todenhoefer, "klarstellen, dass religioes begruendeter Terrorismis kein heiliger Krieg, sondern eine Beleidigung des Namens Gottes ist. Sie sollten dem Terrorismus seine religioese Maske vom Gesicht reissen und seine destruktiv nihilistischen Zuege offenlegen." Die Antwort, die auf diesen Brief folgte, ist die hier zu lesende.

wgl. Friede und Segen Allahs sei mit Ihnen! Ich habe Ihren Brief erhalten und moechte Ihnen meine Wertschaetzung ausdruecken fuer die Muehe, die Sie auf sich nehmen, um ein korrektes Bild des wahren Islams in Deutschland zu vermitteln, damit ein Dialog auf sicheren und objektiven Fundamenten stattfinden kann.

Schon unmittelbar nach der Aggression auf New York und Washington am 11. September 2001 habe ich betont, dass der Islam zum Schutz des Lebens Unschuldiger aufruft und dass der Islam Blutvergiessen verbietet. Der Koran und die reinen Ueberlieferungen des Propheten (Ahadith) rufen die Menschen auf, sich einander zu erbarmen, sich fuer das Gute einzusetzen und Suende und Aggression zu verwerfen. In einem Vers des Koran erklaert uns Allah, der Erhabene, dass, wenn jemand einen Menschen toetet, es so ist, als ob er die ganze Menschheit getoetet habe: "Wenn jemand einen Menschen toetet, ohne dass dieser einen Mord begangen hat oder ohne dass ein Unheil auf Erden geschehen ist, sei es so, als haette er die ganze Menschheit getoetet. Und, wenn jemand einem Menschen das Leben erhaelt, sei es so, als haette er der ganzen Menschheit das Leben erhalten" (Sure 5, Vers 32).

Die Gesamtheit der islamischen Gebote ruft alle Menschen auf, zusammenzuarbeiten, um das Leben der Menschen zu schuetzen, gleichgueltig, ob sie Muslime, Christen oder Juden sind. Das gilt nur dann nicht, wenn ein Mensch einem anderen Unrecht getan hat. Dann wird der Rechtsbrecher vor ein Gericht gestellt, das ihn so bestraft, dass er nicht rueckfaellig wird.

Der Islam ist gegen alle Formen und Facetten des Terrorismus. Er schuetzt und bewahrt das menschliche Leben. Wir stehen auf der Seite derjenigen, die ihr Land und ihre Wuerde verteidigen, da sie sich fuer das Recht einsetzen und verteidigen, was zu verteidigen ist. Terrorismus aber bekaempfen wir, weil er ein Unrecht gegen die Menschheit darstellt.

Wir sind nicht damit einverstanden, dass sich jemand inmitten unschuldiger Menschen, Frauen und Kinder in die Luft sprengt. Wer sich aber inmitten von Soldaten, die ihn toeten wollen, oder inmitten einer Armee, die seine Heimat vergewaltigt, in die Luft sprengt, ist ein Maertyrer.

Jeder Mensch, ob Muslim oder Nicht-Muslim, also unabhaengig vom Glauben, ist berechtigt, sich zu verteidigen. Dieser Sachverhalt ist integraler Bestandteil allen Rechts und entspricht der menschlichen Logik. Der Koran spricht eindeutig vom Recht auf Selbstverteidigung: "Jedoch trifft kein Tadel jene, die sich wehren, nachdem ihnen Unrecht widerfahren ist" (Sure 42, Vers 41).

Dies sind die Worte Allahs. Wer den Aggressor bekaempft, sich und sein Land verteidigt, dem wird Allah, der Erhabene, zur Seite stehen und ihn verteidigen. Ihn trifft deswegen keine Suende. Eine harte Strafe wartet auf diejenigen, die den Menschen Unrecht tun und Unheil auf Erden verbreiten. Es steht ausser Zweifel, dass jeder Staat, der einen Terroristen, der rechtlich verurteilt wurde, beherbergt und ihm Unterschlupf bietet, ein terroristischer Staat ist. Dieser Staat soll nach islamischem Recht, nach menschlichem Verstand und nach geltendem Recht geaechtet werden. Wer Terrorismus foerdert, wird selbst am Terrorismus zugrunde gehen.

Zur Menschlichkeit des Islams waehrend eines Krieges erklaere ich folgendes: Der Islam hat fuer den Kampf in bestimmten Faellen konkrete Regeln vorgeschrieben. Er ruft zum Kampf nur gegen diejenigen auf, die sich zum Kampf gegen ihn geruestet haben. Aber er verbietet die Toetung von alten Menschen, Frauen und von Kindern, er verbietet auch die Zerstoerung des Ackerbaus und das Faellen nutzbringender Baeume und das Abschlachten von Tieren, wenn sie nicht zum Verzehr vorgesehen sind. Ich kenne keine Religion wie den Islam, die Menschlichkeit, Erbarmen, Gerechtigkeit und Toleranz in kriegerischen Auseinandersetzungen in derartig umfassender Weise sogar auf Feinde ausdehnt.

In der Schlacht von Mu'taa kam der Armeefuehrer Abdullah Ibn Rauaha zum Propheten, Allahs Friede sei mit ihm, und sagte: "Oh Prophet Gottes, gib mir einen Ratschlag." Der Prophet, Allahs Friede sei mit ihm, antwortete: "Du sollst Allahs viel gedenken." Er bat um mehr Ratschlaege, und der Prophet antwortete: "Ihr sollt nicht ausbeuten, keinen Verrat begehen, kein Neugeborenes, kein Kind, keine Frau und keine Jugendlichen toeten und keinen Baum faellen. Ihr werdet Menschen begegnen, die sich in Gebetshaeusern aufhalten, ihr duerft sie nicht stoeren."

Der erste Kalif der Muslime, Abu Bakr, befahl seiner Armee unter der Fuehrung von Usama Ibn Zaid: "Befolgt diese zehn Ratschlaege: Begeht keinen Verrat! Betreibt keine Ausbeutung! Seid nicht arglistig! Verstuemmelt niemanden! Toetet keine Kinder, keine alten Menschen und keine Frauen! Vernichtet und verbrennt keine Dattelpalmen! Faellt keine nutzbringenden Baeume! Schlachtet kein Schaf, keine Kuh, kein Kamel, es sei denn zur Nahrung! Ihr werdet Menschen antreffen, die der Welt entsagt haben und in Zurueckgezogenheit leben; lasst sie in ihrer Andacht in Frieden! Ihr werdet Menschen begegnen, die euch verschiedene Speisen anbieten. Wenn ihr etwas davon esst, so sollt ihr dabei Allahs Namen aussprechen."

Der Islam definierte die Anwendung der Menschlichkeit in Friedens- und in Kriegszeiten, lange bevor die Moderne hierzu internationale Vertraege und Abkommen erarbeitete. Die islamische Forschungsakademie von al Azhar, ein Gremium, in dem die hoechsten Gelehrten der al Azhar vertreten sind, ist am 1. November 2001 unter meinem Vorsitz zusammengekommen und hat eine Erklaerung ueber das Phaenomen des Terrorismus aus islamischer Sicht verfasst. Ich fuehre hier die wichtigsten Punkte auf:

- Der Islam betrachtet die Vielfalt der religioesen Wege, der Voelkergemeinschaften, Nationen, Kulturen und Zivilisationen als goettliche Ordnung, als universelles Gesetz, das unveraenderlich bleibt, da Allah, der Erhabene, sagt: "Und haette dein Herr es gewollt, so haette Er die Menschen alle zu einer einzigen Gemeinde gemacht; doch sie wollten nicht davon ablassen, uneins zu sein" (Sure 11,Vers 118).

- Das Zusammenleben, der Dialog und das gegenseitige Erkennen zwischen Voelkern und Nationen sind der Weg zum Erhalt dieser Vielfalt. Alle sind verpflichtet, gemeinsam fuer das Gute einzustehen und das Schlechte und die Feindseligkeit zu verwerfen.

- Das Zusammenleben der Nationen und Voelker und der Fortschritt der Menschheit haengen von der Omnipraesenz der Ethik und der religioesen Werte - vor allem der Gerechtigkeit - und vom Respektieren der Grundsaetze des internationalen Rechts und der Autoritaet der internationalen Institutionen ab.

- Terrorismus bedeutet: Friedfertige in Angst zu versetzen, deren Interessen und Lebensgrundlagen zu zerstoeren. Terrorismus ist ein Angriff auf ihr Hab und Gut, ihre Ehre und Freiheit und ihre Menschenwuerde. Er verbreitet Verderbnis und Unheil auf Erden. Jedem Staat, der von verbrecherischem Terror heimgesucht wird, gebietet das Recht, nach den Verbrechern zu suchen und sie den juristischen Institutionen zu ueberstellen, damit ein gerechtes Urteil ueber sie gefaellt wird.

- Dschihad gemaess dem Islam bedeutet, das Aeusserste an Muehe aufzubringen, das Recht zu unterstuetzen, das Unrecht zu bekaempfen, die Gerechtigkeit und den Frieden und die Sicherheit in allen Lebensbereichen umzusetzen.

- Man darf auf den Kampf (Al-Qital), den der Islam in absoluten Ausnahmesituationen legitimiert, nur in zwei Situationen zurueckgreifen: um die Heimat gegen territoriale Okkupation, Auspluenderung der Ressourcen, gegen Vertragsbruch und Siedlungskolonialismus (einschliesslich seiner Unterstuetzer), der zur Vertreibung der Muslime aus ihrer Heimat fuehrt, zu verteidigen. Oder wenn Muslime unter Druck gesetzt werden, ihren Glauben zu wechseln. Dies ist im folgenden Koranwort begruendet: "Allah verbietet euch nicht, gegen jene, die euch nicht des Glaubens wegen bekaempft haben und euch nicht aus euren Haeusern vertrieben haben, guetig zu sein und redlich mit ihnen zu verfahren; gewiss, Allah liebt die Gerechten. Doch Allah verbietet euch, mit denen, die euch des Glaubens wegen bekaempft haben und euch aus euren Haeusern vertrieben und geholfen haben, euch zu vertreiben, Freundschaft zu schliessen. Wer mit ihnen Freundschaft schliesst - das sind die Missetaeter" (Sure 60, Vers 8 & 9).

- Auch fuer den Fall, dass Muslime zum Kampf gezwungen werden, um ihre Heimat zu verteidigen und ihre Glaubensfreiheit zu schuetzen, hat der Islam klare ethische Normen und Verhaltensregeln aufgestellt, wie zum Beispiel das Verbot, Nicht-Kombattanten zu toeten, ebenso Unschuldige, alte Menschen, Frauen und Kinder. Er verbietet auch, Fluechtende zu verfolgen, sich Ergebende umzubringen, Gefangenen Schmerzen zuzufuegen, Leichen zu schaenden. Er verbietet weiterhin, Einrichtungen, Stellungen und Bauten, die mit dem Kampf nichts zu tun haben, zu zerstoeren.

- Die israelische Kriegsmaschinerie raubt das Territorium der Palaestinenser und befleckt Heiligtuemer vor den Augen einiger Grossmaechte, waehrend der palaestinensische Widerstand sich darauf konzentriert, die Durchsetzung der verabschiedeten UN-Resolutionen zu erwirken.

- Der Kampf gegen den Terror, den die islamische Forschungsakademie unterstuetzt, rechtfertigt nicht den tyrannisierenden, gewaltsamen und grundlosen Angriff auf das arme und wehrlose afghanische Volk, dessen Staedte, Doerfer, Moscheen, dessen alte Menschen, Frauen und Kinder und dessen Lebensgrundlagen, ohne dass Ermittlungen zu den Geschehnissen vom 11. November 2001 aufgenommen worden waren.

- Die islamische Forschungsakademie der al Azhar sieht die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen dem erlaubten und, wie oben aufgefuehrt, ja sogar vorgeschriebenen Dschihad, naemlich die Heimat zu befreien und auf Aggression zu reagieren, und zwischen aggressiver Gewalt, die das Land anderer besetzt, die Regierungen anderer Laender gewaltsam oder durch eine Invasion stuerzt oder die Souveraenitaet nationaler Regierungen auf ihrem Territorium einschraenkt oder friedfertige Zivilisten in Angst und Schrecken versetzt und sie zu elenden Fluechtlingen werden laesst.

- Die islamische Forschungsakademie von al Azhar lehnt die Thesen "Clash of Civilisations", "Krieg der Religionen" und "Kampf der Kulturen" ab, da sie den geistigen Naehrboden fuer den Angriff von Tyrannen auf die Schwachen bietet.

Die Akademie sieht die Notwendigkeit:

- der Wiederherstellung des Respekts vor den Grundlagen der menschlichen Gerechtigkeit,

- der Rueckkehr zu den Grundsaetzen des internationalen Rechts und zu den internationalen Institutionen,

- der verpflichtenden Einhaltung eines einheitlichen Massstabes im Bezug auf die Souveraenitaet der Voelker und deren Selbstbestimmungsrecht und

- der Rueckbesinnung auf die religioese Werteordnung, die von allen monotheistischen Religionen anerkannt wird.

Dies ist der Garant zur Heilung der Ursachen der Krankheiten, von denen unsere zeitgenoessische Welt befallen ist. Gewalt der Tyrannen erzeugt Gegengewalt der Unterdrueckten und Schwachen!

Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und dem Menschen appelliert die islamische Forschungsakademie von al Azhar mit dieser Erklaerung an alle Vernuenftigen dieser Welt, in der Hoffnung, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt zu erreichen. Sie fleht Allah, den Allmaechtigen, an, er moege allen den rechten Pfad weisen.

Aus dem Arabischen von Khaled Alzayed.



Deutsche Muslim-Liga Bonn e.V. - 1423 / 2003