Startseite/Home der DMLBonn e.V. Aus dem Archiv, von der Pressestelle der DMLBonn e.V. Zenith - Zeitschrift fuer den Orient 1/2002
»Den Islam neu denken«Der Wille Gottes in unserer Zeit - Ein Gespraech über Aids, Widerstand und einen modernen Islam mit dem suedafrikanischen Theologen Farid EsackFarid Esack (geb. 1959) studierte islamisches Recht und Theologie in Pakistan und Grossbritannien. In der zweiten Haelfte der 80er Jahre engagierte er sich in zahlreichen Anti-Apartheids-Organisationen. Nach der Wende am Kap fungierte er vier Jahre lang als Gleichstellungsbeauftragter der Regierung Mandela.Seine wissenschaftliche Betaetigung fuehrte Esack an renommierte Universitaeten in aller Welt. Seine Werke (vor allem "Qur'an, Liberation and Pluralism<, 1996) finden weithin Beachtung. Sein gesellschaftliches Engagement hat er beibehalten, vor allem beim Kampf gegen Aids. zenith: Herr Esack, was koennen wir uns unter einem sozial relevanten Islam vorstellen, wie Sie ihn fordern?
Farid Esack: Es geht um einen Islam, der das Leben von Muhammad und anderer Propheten im Koran betrachtet und sich die Frage stellt: Wie kann man die Prinzipien, die diese Personen leiteten, in das eigene Leben integrieren, in ein aktives, sozial engagiertes Leben? Wie kann man aufgrund dieser Prinzipien Probleme wie Armut oder Sexismus erkennen und dagegen angehen? Ganz konkret, wenn Sie sich das Beispiel Aids ansehen, speziell in Suedafrika: Die Vorurteile gegen HIV-Positive und Aids-Kranke, die immer wiederkehrende Frage: Wie hast du es bekommen? Hast du gesuendigt?
Man sollte den Koran also mit den sozialen Themen der heutigen Welt verknuepfen? Ja, das ist wirklich wichtig. Ich engagiere mich in Suedafrika im Kampf gegen Aids, ich habe die Organisation "Positive Muslims" gegruendet. Fuer mich ist dies also nicht nur intellektuell ein Thema. Neben den "Positive Muslims" haben Sie 1984 auch eine muslimische Anti-Apartheid-Organisation mitgegruendet. Meinen Sie das mit "Engagement"?
Ja, ich habe diesen Weg gewaehlt und natuerlich moechte ich, dass ihn andere Muslime mit mir gehen. Die Zerstoerung der Apartheid war fuer uns in den Siebzigern und Achtzigern die groesste Herausforderung. Aber Herausforderungen aendern sich, und so muss man sich immer fragen: Welche Verantwortung habe ich heute als Muslim? Wenn man aus einem Kontinent kommt, auf dem zwei Drittel der weltweiten HIV-positiven Bevoelkerung leben, dann lautet die Antwort: Wir brauchen ein besseres Verstaendnis und Mitgefuehl fuer Leute, die mit HIV und Aids leben muessen.
Ist der Islam im Laufe der Zeit verfaelscht worden? Das wuerde ja bedeuten, dass es so etwas wie den "wahren Islam" gibt. Ich bin grundsaetzlich nicht der Ansicht, dass es etwas "Wahres" gibt. Der so genannte "urspruengliche Islam" ist eine Schnittmenge von goettlichen Botschaften und einem ganz bestimmten sozialen, kulturellen und historischen Milieu, in das er hineingeboren wurde. Wenn man glaubt, dass es nur eine Wahrheit gibt, dann muesste man doch denken, dass nur der arabische Islam genuin sei und all die anderen Spielarten wie der indonesische oder der afrikanische nicht. Das ist absoluter Unsinn. Der Islam wurde also nicht verfaelscht? Nein, der Islam wurde nie verfaelscht. Der Islam erhielt von Beginn an unterschiedliche Faerbungen. Verschiedene Gesellschaften, verschiedene Bevoelkerungsschichten in jeder dieser Gesellschaften, selbst jedes einzelne Individuum gab ihm seine eigene Note. Das heisst, wenn Leute den Islam politisch benutzen, verfaelschen sie ihn nicht? Nein. Hasan Hanafi - ein beruehmter aegyptischer Philosoph - betrachtete die Leute an dem Schrein des Maertyrers Hussein; er sah, wie die Massen sich um den Schrein draengten, ihn beruehrten, die Messinggriffe kuessten, sich ueber das Gesicht strichen und so weiter. Dann sagte er: Das ist kein Islam. Ich habe diese Auffassung kritisiert. Dies ist eine spezielle Art von Islam, die ich persoenlich nicht mag. Ich erklaerte in diesem Zusammenhang, wie der Islam von politischen, reaktionaeren Leuten benutzt wird - fuer die Aufrechterhaltung der Apartheid oder ungerechter oekonomischer Verhaeltnisse in verschiedenen Teilen der Welt. Ich will damit nicht sagen, dass Glaube nur als ideologische Waffe verwendet werden kann. Aber er kann auch als ideologische Waffe verwendet werden. Und wenn er als solche Waffe verwendet wird? Ich habe keine Probleme damit. Es kommt also auf die Ideologie an? Ja. Ich werde aber nicht sagen, dass der eine den Glauben missbraucht und der andere ihn gebraucht. Das waere eine unfaire Unterscheidung, denn es gibt keine absoluten Garantien dafuer, dass der eine Recht hat und der andere nicht. In einem Ihrer Buecher unterscheiden Sie zwischen Anpassungs- und Befreiungstheologie. Haben diese Konzepte Ihren Kampf gegen die Apartheid geleitet? Ja. Mit Anpassungstheologie - ein Begriff, der erst von einer Gruppe christlicher Reformtheologen in Suedafrika gebraucht wurde - meine ich, dass man theologisches Denken mit den herrschenden Maechten in Uebereinstimmung bringt. Anpassungstheologie ist das Verstaendnis eines Islams, das der politischen Macht nahe sein will. "Unsere Verantwortung gilt dem kleinen Mann" Das Gegenteil davon ist die Befreiungstheologie, die bereit ist, die Grundlagen der Macht jederzeit in Frage zu stellen. Unsere Verantwortung gilt dem kleinen Mann. Ausser Ihnen gibt es noch andere Gelehrte, etwa Mohammed Arkoun, Fatima Mernissi, Fazlur Rahman, die fuer einen progressiven Islam eintreten. Ist das der frische Wind, der durch die islamische Welt weht? Ja, diese Leute fragen sich oeffentlich, wie wir unsere Religiositaet und unsere Vorstellungen auf eine Gesellschaft anwenden koennen, die nach Gerechtigkeit schreit. Das ist es, was diese Leute verbindet, und man findet sie in der gesamten islamischen Welt. Aber warum weht dieser Wind gerade jetzt? Die Gesellschaft schreit ja nicht erst seit 50 Jahren nach Gerechtigkeit. Vor 50 oder 100 Jahren hatten die Leute andere Sorgen - die Abduhs und Afghanis ... ...die grossen Intellektuellen der arabischen Renaissance ... haben gegen den Kolonialismus gewettert. Das war das draengende Problem jener Zeit. Die islamische Welt beschraenkt sich nicht mehr auf den Nahen und Mittleren Osten. Die Umma, die Gemeinde der Muslime, hat sich globalisiert. Wir sind ueberall auf der Welt, und die Probleme der Welt sind damit auch unsere Probleme geworden. Und in den verschiedenen Teilen der islamischen Welt wird man unterschiedliche Antworten darauf finden. Ausserdem haben sie durch die mediale Vernetzung der Welt eine Dringlichkeit und Unmittelbarkeit bekommen, die sie frueher nicht hatten. Ich glaube, dass der progressive Islam zumindest zum Teil eine Antwort auf Probleme ist, die darin wurzeln, dass die Welt ein Dorf geworden ist. Dass die Reichen in dieser Welt immer reicher werden und die Armen immer aermer. Frueher haben wir das nicht so scharf wahrnehmen koennen wie heute. Heisst das, dass die erweiterten Moeglichkeiten der Medien ein Grund fuer den wachsenden Einfluss des "progressiven Islams" sind? Absolut. Die Medien sind sogar ein Teil seiner Strategie. Er macht sie sich zunutze. Sie waren einige Jahre Gleichstellungsbeauftragter der suedafrikanischen Regierung. Manche Muslime rechtfertigen die Unterdrueckung von Frauen mit Koranversen ...
Zuerst einmal sind die muslimischen Gesellschaften nicht die einzigen, die Frauen diskriminieren. Wenn Sie in die Businessklasse der Lufthansa schauen, werden Sie auf den 48 Sitzen nur etwa vier oder fuenf Frauen sehen. Ich habe das viele Male gezaehlt.
"Ich glaube, dass der Islam eine Bedrohung sein sollte"
Ich habe immer argumentiert, dass der Koran ein historisches Dokument ist. Seine Sprache ist eine menschliche Sprache, sein Kontext ein menschlicher. Er wurde einem Propheten herabgesandt, der zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Gesellschaft lebte. Davon ausgehend muss man herausfinden, was fuer diese spezielle Zeit relevant war und was nicht. Und anstatt auf die spezifischen Anweisungen im Koran zu achten, muss man seinen Blick auf die ihnen zu Grunde liegenden Prinzipien richten.
Sie fordern, die Scharia zu reformieren und mit der Allgemeinen Erklaerung der Menschenrechte in Ubereinstimmung zu bringen. Wuerde das nicht die Abschaffung der Scharia bedeuten? Die Scharia war immer Veraenderungen unterworfen. In Wahrheit ist die Scharia sehr wichtig fuer die muslimische Gesellschaft - man kann einfach nicht vom Islam sprechen, ohne die Scharia mit einzubeziehen. Ich glaube, dass der Koran heilig ist, aber die Scharia ist ein menschliches Instrument, das im Heiligen gruendet. Und alle Dinge, die im Heiligen gruenden, koennen verschiedene Formen haben. Aber die vollstaendige Akzeptanz der Menschenrechtserklaerung wuerde doch auf eine Abschaffung der Scharia hinauslaufen, oder nicht? Wenn man die Scharia als Menge unveraenderlicher Tatsachen betrachtet: ja. Aber wenn man versteht, dass die Scharia seit jeher organisch gewachsen ist und sich verschiedenen Milieus angepasst hat, dann sieht man, dass ihre Essenz durchaus nicht unwandelbar ist. Ist der Islam nach dem Fall des Kommunismus die neue Bedrohung fuer die so genannte entwickelte westliche Welt? Ich habe nichts dagegen, dass der Islam eine Bedrohung ist, denn ich finde, dass die heutige Welt mit einer Supermacht, einer Ideologie und einer Art von Globalisierung keine sehr schoene Welt ist. Ich habe nichts dagegen, dass der Islam Teil einer Bedrohung fuer die "Pax Americana" ist, fuer den globalen Frieden, der allein auf den Werten der Vereinigten Staaten beruht. Aber ich moechte nicht, dass der Islam die einzige Herausforderung wird. Er sollte eine sein, aber gemeinsam mit anderen internationalistischen Kraeften - mit Menschen, die sich Sorgen machen um die natuerlichen Ressourcen, die globale Erwaermung, die Marginalisierung der Menschen in der Dritten Welt, die Profite der Pharma-Industrie und so weiter. Ja, ich glaube, dass der Islam eine Bedrohung sein sollte. Aber nicht isoliert von anderen. Interview: Stefan Fix
Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung von Zenith - Zeitschrift fuer den Orient. Dort erschienen in der Ausgabe 1/2002, S.40ff
Deutsche Muslim-Liga Bonn e.V. - 1423 / 2003 |