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Aus dem Archiv, von der Pressestelle der DMLBonn e.V.


Tschetschenien

Stumme Schreie


James Meek, The Guardian, 14.12.2002

Die Leiche eines Unbekannten ist nicht notwendigerweise ein erschreckender oder bewegender Anblick, nicht solange ein Detail daran erinnert, dass dieser Fremde ein atmendes, denkendes, lachendes Wesen war.

Es war der Fall an diesem Massengrab fuer Zivilisten, die durch russisches Bombardement in Grosny im Fruehjahr 1995 getoetet wurden. Als ich am Jahrestag des Sieges im 2. Weltkrieg dort eintraf, waren ungefaehr 700 schon beerdigt. Ein Dutzend Koerper wurde jeden Tag aus den Truemmern gegraben und ein russischer Polizist stellte sofort Totenscheine aus.

Die Opfer waren zumeist aeltere Menschen, eingemummt gegen die Kaelte in Kleidern, die bereits verschlissen waren, bevor sie mit Staub und Blut verbacken sind. Sie waren grau ueber grau, zerlumpt, anonym. Ich weiss nicht weshalb, aber als der Polizist, Dima, seinen behandschuhten Zeigefinger in den Mund eines der toten Maenner steckte und ihn zur Seite schob, um einen Blick auf die Zaehne zu werfen, kam die Leiche wieder zu Leben, und die Scham und die Trauer von Russlands Staatsverbrechen an seinen eigenem Volk brannte einem ins Herz.

Letzte Woche war es acht Jahre her, dass Boris Jelzin und seine Minister der russischen Armee befohlen haben, Moskau's Kontrolle ueber Tschetschenien wiederherzustellen, einer Region, die mit Gewalt im 19. Jahrhundert in das zaristische Imperium eingegliedert wurde und erbarmungslos von Stalin heimgesucht wurde. 1994 scheiterte die Armee. Sie scheitert auch jetzt. Im Zuge dieses Scheiterns wurden zehntausende Zivilisten geschlachtet, verkrueppelt, vergewaltigt oder beraubt, und junge Maenner auf beiden Seiten sind herabgestiegen zu sinnlosen Terrorismus, Entfuehrungen und Mord begruendet mit Nationalismus und Religion.

Auch etwas anderes hat sich nicht geaendert: das Versagen westlicher Regierungen, die tschetschenischen Verbrechen Russland als das anzuerkennen, was sie sind, naemlich eine klare Anklage gegenueber Jelzin und seinem Nachfolger Wladimir Putin. Es schien wuerdelos genug, als 1995, am 50-jaehrigen Jubilaeum des Endes des 2. Weltkrieges, Bill Clinton und John Major sich mit Jelzin in Moskau vergnuegten, waehrend sich die Leichname in Massengraebern in Grosny stapelten. Damals war Moskau blosse fuenf Monate im Kampf gegen Tschetschenien. Nun, acht Jahre spaeter, hat Britannien einen Fuehrer ohne Parallele in seiner Selbstgerechtigkeit, wenn die Unterdrueckten dieser Welt betroffen sind - im Kosovo, im Irak, in Afghanistan. Was Tschetschenien betrifft, ist er schlimmer als stumm. ... Tony Blair's Nachlaessigkeit, die russische barbarische Behandlung von Menschen, die Russland die seinigen nennt, zu einem Thema zu machen, hat eine zynische Logik: dass es immer wichtigere Zugestaendnisse von Moskau abzuringen galt, naemlich die Kooperation im UN-Sicherheitsrat oder britische Oel-Interessen in Sibirien, als dass sie die Tschetschenen besser behandeln sollten. In der Vergangenheit hat das bedeutet, dass Russland freie Hand bekam, wenn es Zivilisten in Tschetschenien behandelte, als ob es Kombattanten seien.

Neben der Immoralitaet ist die vermutete Logik falsch. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben die westlichen Regierungen die Faehigkeit und die Bereitschaft Russlands, ihrer grossen Macht-Rhetorik entsprechend westliche Projekte zu hemmen, ueberschaetzt. Die urspruenglichen Erklaerungen fuer die Entschlossenheit, den Tschetschenien-Krieg zu verfolgen, machen keinen Sinn mehr. Keine anderen russischen Regionen sind an Unabhaengigkeit interessiert, und die tschetschenische Rolle im geostrategischen Manoever fuer zentralasiatisches Oel ist gering.

Wie Israel, hat Russland von Washingtons und Londons verinnerlichter "Post-11. September Feindschaft" gegenueber jeder Bewegung, die in irgendeiner Weise den Islam und Widerstand gegen eine etablierte Ordnung beinhaltet, profitiert. Es stimmt. dass Russland und die Zivilisten von Tschetschenien unter bewaffneten islamistischen Gruppen und in Tschetschenien beheimateten Kriminellen gelitten haben, aber die Kur ist viel schlimmer als die Krankheit. Russlands Versuch, sich in Tschetschenien selbst, lange bevor George Bush den Passus verwendete, als Kaempfer im Krieg gegen den Terror einzusetzen, haelt nicht stand.

Die letzte Geiselnahme in Moskau zeigt zwei Dinge: erstens, dass Russland die Minderheit der kriminell-islamistischen Elemente in Tschetschenien zu verzweifelten und gefaehrlichen Taten treibt; und zweitens, die Gefuehlslosigkeit der russischen Autoritaeten gegenueber ihren eigenen Buergern. Das fatale Fehlen der Fuersorge fuer die Geiseln direkt nach der Gasattacke ist ein Echo auf den unbesorgten Gebrauch toedlicher Gewalt gegenueber Zivilisten in Tschetschenien. Der Krieg in Tschetschenien sieht immer mehr wie ein Kampf um die Macht um der Macht willen aus.

... Die Oeffentlichkeit, die Medien und die Politiker haben sich nie in eine solche Spirale des Unmuts ueber Tschetschenien begeben, wie sie das im Falle von Bosnien und Kosovo getan haben. Obwohl, wenn man es objektiv beurteilt, die Verbrechen, fuer die Jelzin und Putin letztendliche Verantwortung tragen, bedeuten, dass wenn Major und Blair mit ihnen diniert habe, sie mit Maennern an einem Tisch gesessen haben, die sich von Slobodan Milosevic nicht unterscheiden.

Es wurde noch keine zuverlaessige Schaetzung der Zahl der Toten in den zwei Kriegen vorgenommen. Tom de Waal, vom Institut fuer Kriegs- und Friedensberichterstattung, sagt, dass seit 1994 zwischen 50.000 und 100.000 Zivilisten in Tschetschenien getoetet wurden, neben 13.000 bis 20.000 Kaempfern - schockierende Zahlen in einem Gebiet deren Gesamtbevoelkerung ca. eine Million betraegt.

Es gab Berichterstattungen ueber die individuellen Grausamkeiten von russischen Truppen. Aber es gibt ein befremdendes Durchhaltevermoegen des Bewusstseins der westlichen Oeffentlichkeit das Ausmass wahlloser Artillerie-, Luft- und Raketen-Bombardements von Grosny 1995 und 1999-2000 zu akzeptieren. In jedem Fall waren zehntausende Zivilisten, hauptsaechlich Aeltere und Kranke, in der Stadt gefangen.

Fred Cuny, ein US-Helfer, der spaeter in Tschetschenien getoetet wurde, schrieb nach dem ersten Bombardement: "Die hoechste in Sarajevo aufgenommene Feuerfrequenz betrug 3.500 schwere Explosionen am Tag. In Grosny, im fruehen Februar, zaehlte einer meiner Kollegen 4.000 Explosionen am Tag."

Das Muster wurde 1999/2000 wiederholt. Ein einziger Raketenangriff auf Grosnys Markt toetete fast 120 Menschen. Putin bestaetigte die Verwendung von Skud-Raketen gegen Grosny sogar - das erste und bisher einzige Mal, dass ein Regierender derartige Raketen gegen eine seiner eigenen Staedte abgefeuert hat.

Das Massenbombardement ist vorerst vorbei, aber Tschetschenien bleibt ein Ort des Terrors, wo militaerische Todestruppen in der Nacht herumstreifen und Zivilisten ungeschuetzt sind. Seit der Theater-Geiselnahme in Moskau, wurden einige hundert tschetschenische Maenner von den Sicherheitskraeften entfuehrt. Mehr als 100.000 Fluechtlinge leben noch ausserhalb der Region, und kaempfen gegen russische Versuche, sie zur Rueckkehr zu zwingen. Ungefaehr gleich viele sind Fluechtlinge innerhalb Tschetscheniens. In einem Brief an Blair vom Oktober prangerte die US-Organisation Human Rights Watch an, dass Operationen der russischen Truppen im letzten Jahr in Folter, Massenexekutionen, hochgradige Erpressung und Pluenderungen ausgeartet sind. Die Brutalitaet hat es nicht geschafft, den bewaffneten Widerstand zu beenden. Tschetschenische Kaempfer fahren fort russische Soldaten zu toeten, nach manchen Schaetzungen in einem Durchschnitt von fuenf bis 10 an einem Tag.

...

Ein wahrer Test fuer moralische Verantwortung waere es, im Falle Tschetscheniens Stellung zu beziehen, wenn weder die Oeffentlichkeit, noch die Medien, noch das Weisse Haus dies von ihm verlangen.

The Guardian, 14.12.2002 - guardian.co.uk



Deutsche Muslim-Liga Bonn e.V. - 1423 / 2003