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Aus dem Archiv, von der Pressestelle der DMLBonn e.V.


"Hier gibt es keine Tabus"

Interview mit Muhammad Kalisch
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Januar 2005


Muhammad Kalisch wurde im Juli 2004 auf den Lehrstuhl fuer Religion des Islam an der Westfaelischen Wilhelms-Universitaet Muenster berufen. Der Volljurist und habilitierte Islamwissenschaftler soll dort vom Sommersemester dieses Jahres an erstmals in Deutschland Lehrer fuer bekenntnisorientierten Islamunterricht an staatlichen Schulen ausbilden. Mit Kalisch, der 1966 in Hamburg geboren wurde und mit fuenfzehn Jahren zum Islam konvertierte, sprach Susanne Kusicke.

Wie weit sind die Vorbereitungen fuer den neuen Studiengang gediehen, und wie wird er gestaltet?

Es wird ein Erweiterungsstudiengang fuer Lehramtsstudenten mit zwei Faechern sein, die zusaetzlich zu Islam-Lehrern ausgebildet werden. Der Studiengang soll auf 30 Teilnehmer begrenzt werden. Bis jetzt laeuft zeitlich alles so, wie wir es geplant haben. Die Studien- und Pruefungsordnung wird in den naechsten Tagen, spaetestens Wochen druckreif sein und vom Ministerium genehmigt werden. Der Beirat hat den Plaenen im wesentlichen zugestimt, und ich gehe davon aus, dass jetzt nichts mehr dazwischenkommt.

Interessenten dafuer gibt es schon?

Die gibt es. Das wissen wir, weil die Sache vor etwa einem Dreivierteljahr publik gemacht worden ist, und es meldeten sich sehr viele Leute, die sich dafuer interessieren.

Welche Studieninhalte sind geplant, und was muessen die Studierenden mitbringen?

Der Studiengang ist auf sechs Semester angelegt und relativ vollgepackt. Wir erwarten, dass die arabische Sprache in einem Mindestmass erlernt wird. Dann werden wir islamisches Recht, Rechtsmethodik, Theologie, Philosophie, Mystik erarbeiten. Die einzelnen Rechtsgebiete und die Methodik in ihrer historischen Entwicklung und in aktuellen Debatten werden eine grosse Rolle spielen. Dasselbe gilt fuer den gesamten Bereich der Theologie, Philosophie, Mystik. Beim Recht geht es insbesondere darum, eine grundgesetzkonforme Auslegung zu bieten. Hinzu kommen allgemeine universitaere Fragen, wissenschaftliches Arbeiten, speziell islamwissenschaftliches Arbeiten, historischer Ueberblick. Im fortgeschrittenen Studium werden wir Religionspaedagogen hinzunehmen, die die Unterrichtsdidaktik vermitteln. Wir hoffen, dass der Studiengang auf laengere Sicht zu einem zweiten Hauptfach weiterentwickelt werden kann.

Was fuer eine Funktion hat der Beirat?

Wir wollten von Anfang an klarstellen, dass hier nicht ueber die Koepfe der Muslime hinweg entschieden wird. Beteiligt sind der Zentralrat, der Islamrat, der Verband der Islamischen Kulturzentren, die Ditib als Vertreter der tuerkischen Religionsbehoerde und das islamische Zentrum Hamburg. Diese Zusammenarbeit hat sich als ausgesprochen fruchtbar erwiesen, es gab viele konstruktive Vorschlaege. Die Hauptfunktion des Beirats ist eine beratende und, spaeter, die Anwendung in der Praxis. Wir erwarten, dass die im Beirat vertretenen Organisationen spaeter die Lehrinhalte an den Schulen mitbestimmen werden. Das heisst fuer mich, dass ich an der Universitaet die entsprechenden Hintergruende unterrichten werde.

Wuerden dann - anerkannte - Religionsgemeinschaften Absolventen des Studiengangs an Schulen vermitteln, in denen sie Religionsunterricht anbieten?

Das wuerde so funktionieren. Eingestellt wuerden die Lehrer vom Land. Aber innerhalb der Grenzen des Grundgesetzes haben die Religionsgemeinschaften ein erhebliches Wort mitzureden. Das bedeutet vor allem, dass es bekenntnisorientierter Unterricht sein wird. Wir haben beispielsweise in Nordrhein-Westfalen einen Modellversuch fuer islamkundlichen Unterricht. Dabei wird ueber den Islam aus einer neutralen dritten Perspektive berichtet. Diese Lehrplaene werden in Soest erstellt, und es sind sehr engagierte Leute, die das machen. Religionsunterricht bedeutet dagegen, dass sich der Lehrer zu der Religion, die er unterrichtet, bekennt und diese als richtig darstellt.

Nach welchen Ansaetzen lehren Sie?

Es wird nicht so sein, dass eine bestimmte theologische Schule den Studiengang praegt. Die Richtung, der ich selbst angehoere, wird als eine unter vielen vorkommen. Ich bin zaiditischer Schiit, das ist eine Stroemung der Schia, eine Mindermeinung, die sehr rationalistisch gepraegt ist, wobei ich auch Ansaetze vertrete, die einer Weiterentwicklung der traditionellen mutazilitischen Theologie (der Theologie des fruehislamischen Rationalismus, Anm. der Red.) durch indopakistanische Gelehrte wie Sayyid Ahmad Khan oder Muhammad Iqbal entstammen.

Nicht-verfassungskonforme Koran-Auslegungen koennen hier dargestellt werden, auch die Argumentationen, die sie herleiten. Aber ich bin gehalten, ein Modell zu entwickeln, in dem Religion und Verfassung nicht kollidieren. Dafuer ist ein rationalistischer Ansatz natuerlich hilfreich. Ein klares Beduerfnis, das sich aus der Praxis fuer den Studiengang ergibt, entsteht dadurch, dass die Mehrheit der Muslime in Deutschland tuerkischer Herkunft ist. Dementsprechend muss der Islam, wie er in der Tuerkei ausgepraegt ist - die hanafitische Rechtsschule (nach Abu Hanifa, Anm. d. Red.) und die maturiditische Theologieschule (nach Al Maturid, Red.) -, hier einen gewissen Schwerpunkt haben. Die gaengigen akademischen Standards muessen natuerlich auch eingehalten werden. Das bedeutet eine Oeffnung der Diskussion ueber bestimmte Dinge, die konservativen Muslimen durchaus Probleme bereiten koennte.

Wofuer wollen Sie die Diskussion oeffnen?

Beispielsweise fuer problematische juristische Fragen wie die Apostasie. Alle traditionellen islamischen Schulen sagen, dass ein Abtruenniger hingerichtet werden muss, wenn er nicht innerhalb einer bestimmten Frist bereut. Viele Muslime in traditionellen Laendern fordern, dass das als Rechtsprechung eingefuehrt wird. Aber seit mehreren Jahrzehnten wird unter islamischen Juristen auch darueber diskutiert, ob diese traditionelle Ansicht eigentlich richtig ist - und ob sie zwangslaeufig ist. Im Koran steht nichts darueber; es wird mit bestimmten Traditionen begruendet, die auf den Propheten zurueckgehen.

Aber sind diese Traditionen authentisch? Traditionalisten sagen, darueber gibt es keinen Zweifel und keine Diskussionen. Aber unter dem Dach einer deutschen Universitaet besteht die Freiheit, danach zu fragen, hier gibt es keine Tabus. Man kann historisch-kritisch herangehen und fragen, ob der Prophet das wirklich gesagt hat und ob es nicht im Widerspruch zum Koran steht. Man muss auch generell die Frage nach der Flexibilitaet des islamischen Rechts stellen: etwa inwieweit eine bestimmte Rechtsmethodik im Umgang mit den Quellen einen bestimmten Zeitgeist reflektiert.

Ein anderes Beispiel: Fuer fast alle Muslime ist der Exodus eine historische Tatsache, weil der Koran ihn erwaehnt. In der heutigen alttestamentlichen Wissenschaft ist es dagegen keine Frage, dass er so nicht stattgefunden hat oder sogar nur eine symbolische Erzaehlung ist. Fuer viele Muslime ist das eine Ungeheuerlichkeit, die einem Austritt aus dem Islam gleichkaeme. Man kann sich persoenlich dazu unterschiedlich verhalten, etwa indem man fragt, was die Offenbarung eigentlich mitteilen will und sie symbolisch-allegorisch interpretiert. Oder man betrachtet die Erkenntnisse der Archaeologie und der historisch-kritischen Forschung als irrelevant fuer den persoenlichen Glauben. Letzteres tun auch manche Christen, nehmen Sie den Ansatz von Karl Barth oder der Evangelikalen.

Aber ein Universitaetstheologe muss ueber solche Dinge kontrovers diskutieren, allein schon wegen der archaeologischen Erkenntnisse, die gegen den Exodus sprechen. Sonst fuehren wir die theologischen Diskussionen des 15. oder 16. Jahrhunderts, als es diese Erkenntnisse noch nicht gab. Es gibt keinen sakrosankten Bereich, den man akademisch nicht antasten duerfte.

Das muss doch Widerstand hervorrufen?

Natuerlich stoesst man da auf Widerstand. Es wurde auch schon geaeussert, ich sei viel zu liberal. Aber im Beirat besteht mittlerweile ein Konsens darueber, dass es akzeptabel ist, solche Fragen zu stellen. Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es sonst auch keinen bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht an den Schulen geben wird. Kraeften am aeusseren fundamentalistischen Rand ist aber auch der Beirat zu liberal. Letztlich denke ich, dass sich die Muslime selbst keinen Gefallen tun, wenn sie sich in diesen Diskussionen ausweichend verhalten. Auch in der islamischen Welt sind diese Diskussionen nicht mehr aufzuhalten, und man kann nicht jedem, der darueber diskutiert, absprechen, Muslim zu sein. Das ist letztlich das Modell "Taliban", das ja ganz offensichtlich nicht funktioniert. Entweder die islamische Gesellschaft der Zukunft akzeptiert, dass es unterschiedliche Deutungen gibt, oder sie verharrt in dem derzeitigen Stillstand.



Deutsche Muslim-Liga Bonn e.V. - 1426 / 2005